Aygen-Sibel Çeliks Roman Seidenhaar erfüllt als Werk der Jugendmigrationsliteratur das
Kriterium des Exemplarischen hinsichtlich des Settings und der Figuren. Die
Austauschbarkeit des Schauplatzes Frankfurt mit jeder beliebigen deutschen Großstadt,
aber auch die durch Charakter und Handlung der Figuren gegebenen
Identifikationsmöglichkeiten verdeutlichen beispielhaft die Integrationsproblematik in
Deutschland.
Somit trifft dieses Jugendbuch den Nerv unserer Zeit, in der Deutschland offensichtlich die
Integration der Migranten verpasst hat.1 Anzeichen hierfür ist die aktuell wachsende Anzahl sogenannter „Konsensnazis“, die sich nach außen um ein Saubermannimage bemühen.
Unerkannt betreiben sie auf Schulhöfen ihre Jugendarbeit, um Schülerinnen und Schüler für
den „Kulturkampf“ innerhalb ihrer Jugendbewegung „neuen Typs“ zu gewinnen.2
Daher gilt es, die Jugend durch die Thematisierung des Fremden vor derartiger
Indoktrinierung zu schützen, zumal die Begegnung andersartiger Kulturen sowohl zum
gegenwärtigen als auch zum zukünftigen Alltag gehört. Gegenwartsbedeutung findet die
Beschäftigung mit Seidenhaar im Abbau von Vorurteilen der nach Identität suchenden
Schülerinnen. Die relativ leichte Identifikation der 12/13 jährigen Siebtklässlerinnen mit den in
etwa gleichaltrigen, ebenso pubertierenden Figuren kann die am eigenen multikulturellen
Schulhof unabdingbare Toleranz fördern. Dieser Lebensweltbezug und die Kürze des
Romans von lediglich 137 Seiten können in Verbindung mit der Zukunftsbedeutung der
Thematik motivierend auf die Schülerinnen wirken. Da die Schülerinnen in einer zunehmend
multikulturellen Gesellschaft leben und sie aktiv mitgestalten sollen, sind dem Bewusstsein
über die eigene Identität und der Toleranz gegenüber Fremdartigem eine große Bedeutung
zuzuschreiben.
Gemäß dem Lehrplan für die 7. Klasse lernen die Schülerinnen an Hand der Lektüre
Seidenhaar Jugendliteratur aus einem andersartigen Kulturkreis kennen und setzen sich
dabei mit Fragen eigener und fremder Identität auseinander. Gleichzeitig beschäftigt sich die
Klasse mit dem Thema Frau, da weibliche Hauptfiguren und ihre Lebenswelt im Mittelpunkt
des Romans stehen. Des Weiteren lernen die Schülerinnen das Werk einer
zeitgenössischen Autorin kennen, wodurch ihre Leseerfahrung, verbunden mit der Entnahme
und Verarbeitung von Informationen über eine andere Kultur, erweitert wird. Es bietet sich
an, diese Kenntnisse fächerübergreifend mit den Fächern Religion und Ethik zu erarbeiten
oder zu vertiefen, da die Behandlung des Islams ohnehin von deren Lehrplänen für diese
Jahrgangsstufe vorgesehen ist.
Auf Grund mangelnder Integration bleiben Migranten in Deutschland gerne unter sich, so
dass sie sich wiederum als Gruppe selbst ausgrenzen. So mancher will daher gar nichts mit
den abfällig als „Ausländerpack“ bezeichneten Migranten zu tun haben, obwohl er selbst
keine kennt. Zur Beseitigung dieser gegenseitigen Unwissenheit der Gruppierungen
übereinander will unser Unterrichtsentwurf mit folgenden Grobzielen beitragen: In kognitiver
Hinsicht sollen Sachinformationen über die fremde Kultur des Islams vermittelt werden. Im
emotionalen und sozialen Bereich3 sollen durch die intensive Auseinandersetzung mit den
Figuren in Aygen-Sibel Çeliks Roman Seidenhaar Empathiefähigkeit und Selbstreflexion
geschult werden. Insgesamt sollen Vorurteile ab- und Toleranz aufgebaut sowie
gruppendynamische Prozesse gefördert werden.
Die für Gruppendynamik notwendige soziale Kompetenz soll durch Kommunikation der
Schülerinnen untereinander, sowohl verbal als auch in schriftlicher Form, erfolgen. Zur
Steigerung der Kommunikationsfähigkeit soll die Klasse die Figuren arbeitsteilig und
teamorientiert charakterisieren und präsentieren. Dabei soll durch aktives Zuhören den
anderen Respekt vor deren Arbeit gezeigt werden, aber auch durch logisches Argumentieren
die eigene Meinung vertreten werden.
Auf diese Weise können die Schülerinnen im Hinblick auf die affektiv-emotionalen Lernziele
die Wirkung ihrer Meinungsäußerung auf andere und auf sich selbst erfahren. Die eigene
Meinung soll themenadäquat eingebracht werden und auf die Äußerungen von
Mitschülerinnen soll Bezug genommen werden. Hier sollen die Schülerinnen zeigen, dass sie
die Regeln der Kommunikation beherrschen, nicht zuletzt auch im Ausreden-Lassen der
Sprechenden. Das Erkennen und Nutzen der Macht der Sprache soll die Gefühle der
Selbstwirksamkeit sowie der Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit erfahrbar machen. Die so
in ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit gestärkten Schülerinnen werden die Anwendung
von Gewalt in Auseinandersetzungen verachten. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit soll
ferner durch die besondere Aufmerksamkeit der Lehrkraft gegenüber den Äußerungen der
Schülerinnen gefördert werden, während diese von ihren Leseerfahrungen berichten. Damit
möglichst jede Schülerin gespannt auf das Buch Seidenhaar ist und es neugierig und
aufmerksam liest, soll die Klasse die Informationen über den Islam mit allen Sinnen — Hören,
Sehen, Fühlen — aufnehmen. Eine musikalische Kostprobe der islamischen Kultur soll
angeboten und Bilder dazu gezeigt werden, damit sich die Schülerinnen in diese für sie
fremde Welt leichter hineinversetzen können. Beim Lesen des Jugendromans sollen sie sich
in die Figuren einfühlen, wodurch ihre Empathiefähigkeit gefördert wird. Eine intensive
Analyse der Charaktere soll sie zu einem Perspektivwechsel führen, um eine Änderung ihrer
Einstellungen zu ermöglichen: Das Dilemma, in dem junge muslimische Frauen stecken
können, und die eigenen Vorurteile gegen sie sollen erkannt werden und durch eine neue
Meinung ersetzt werden. Verdeutlichen soll dies das Abschlussbild, bestehend aus
Präsentationskärtchen mit den anfänglichen Voreingenommenheiten und der tatsächlichen
Realität, wie sie die Figurencharakteristiken ergeben haben. Dadurch dürfte es bei den
Schülerinnen zu einem Aha-Effekt kommen, der sie Toleranz gegenüber Menschen anderer
Kulturen und Religionen erlernen lässt. Die Befassung mit fremden Einstellungen wird die
Schülerinnen zur Selbstreflexion, insbesondere zur Schärfung ihrer Selbst- und
Fremdwahrnehmung führen. Letztendlich soll dies der Identitätsfindung dienen und zugleich
ihre Toleranz im Sinne von Akzeptanz und Respekt vor Andersartigen oder
Andersdenkenden erhöhen.
Auf kognitiver Ebene soll die Auseinandersetzung mit dem Roman Seidenhaar die
Schülerinnen zu tiefgründigem Denken in Zusammenhängen herausfordern und ihre Kritik-
und Urteilsfähigkeit verbessern. Dazu müssen sie die Figuren durch das Anwenden
charakterisierender Adjektive und Adverbien sowie komplexerer Adverbiale beschreiben und
ihrer Figur den jeweiligen biografischen und soziokulturellen Hintergrund zuordnen. Überdies
sollen sie die Einstellungen der jeweiligen Figur zum Islam und zum Kopftuch herausstellen
und in Bezug zueinander setzen. Dabei müssen sie ihr Wissen über die islamische Kultur
anwenden, das sie mit Hilfe der Sachinformationen der Lehrkraft und des Glossars am Ende
des Buches erworben haben. Durch diese Analyse und Synthese können die Schülerinnen
nicht nur Text- und Literaturverständnis erwerben und ausbauen, sondern auch die Technik
des Arbeitens mit einem Text durch Textbelege üben. Ebenso sollen sie die Methode des
Brainstormings kennen lernen. Beide Arbeitstechniken zielen darauf ab, dass sich die
Schülerinnen längere Zeit auf eine Sache konzentrieren können. Dies ist auch notwendig,
wenn sie ihre Meinung zu den thematischen Aspekten sprachlich richtig formulieren wollen.
Somit wird ihre Sprachkompetenz erweitert, insbesondere, wenn trotz Einhaltung der
Kommunikationsregeln Konflikte in Form von Meinungsverschiedenheiten auftreten.
Gerade in Situationen, in denen die Schülerinnen ihre Meinung verbalisieren sollen, ist auch
die im psychomotorischen Bereich angesiedelte Fähigkeit des flüssigen Sprechens ohne
motorische Störungen, wie Stottern oder Zittern wichtig. Sie sollen daher den sprachlich
flüssigen, gestisch und mimisch ausdrucksstarken Ergebnisvortrag oder das Referieren der
Informationen über Werk und Autorin vor der Klasse üben. Umgekehrt sollen sie genauso
ihre Gedanken rasch in Worte fassen und aufschreiben können. Dies sollte in ansprechender
Form erfolgen, so dass, abgesehen von der Lesbarkeit, eine Ordnung und Struktur
erkennbar ist.
Demzufolge sollen sich die Schülerinnen in jeder Hinsicht aktiv am Unterricht beteiligen, sei
es durch die mündliche oder schriftliche Meinungsäußerung, die persönliche und
gruppendynamische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen und dann mit den
literarischen Figuren sowie deren Problemen, Haltungen und Vorurteilen, die Präsentation
der Ergebnisse im Plenum, die Korrektur bzw. Ergänzung der Beiträge anderer sowie das
persönliche und gemeinschaftliche Erarbeiten von konkreten Schlussfolgerungen aus dem
Abschlussbild. So wird eine Selbsttätigkeit erreicht, deren Ziele die positive Änderung der
eigenen inneren Einstellungen und die Orientierung an den Werten einer toleranten und
harmonischen multikulturellen Gesellschaft sind. Damit kann hoffentlich ein Mitschwimmen
im Mainstream und das Festhalten an unbedachten Vorurteilen verhindert werden.
1 Anm.: So beurteilte Bundespräsident Horst Köhler die Integration von Migranten in Deutschland im
Vergleich mit anderen Ländern bei „Sabine Christiansen“ am 24. Juni 2007.
2 Anm.: siehe Artikel „Jetzt kommen die guten Nazis“ in: Die Zeit, Jg. 62, Nr. 26, 21. Juni 2007, S. 43.
3 Anm.: Bisher werden emotionale und soziale Lernziele in der Fachwissenschaft meist getrennt,
obwohl sie sehr eng in Bezug zueinander stehen. Wir sind allerdings der Ansicht, dass emotionale
Lernziele in der Regel zugleich auch eine soziale Dimension besitzen.