Unterrichtsmodell zum Jugendroman Seidenhaar von Aygen-Sibel Çelik

4. Didaktische Analyse

4.1. Legitimation

Aygen-Sibel Çeliks Roman Seidenhaar erfüllt als Werk der Jugendmigrationsliteratur das Kriterium des Exemplarischen hinsichtlich des Settings und der Figuren. Die Austauschbarkeit des Schauplatzes Frankfurt mit jeder beliebigen deutschen Großstadt, aber auch die durch Charakter und Handlung der Figuren gegebenen Identifikationsmöglichkeiten verdeutlichen beispielhaft die Integrationsproblematik in Deutschland.
Somit trifft dieses Jugendbuch den Nerv unserer Zeit, in der Deutschland offensichtlich die Integration der Migranten verpasst hat.1 Anzeichen hierfür ist die aktuell wachsende Anzahl sogenannter „Konsensnazis“, die sich nach außen um ein Saubermannimage bemühen. Unerkannt betreiben sie auf Schulhöfen ihre Jugendarbeit, um Schülerinnen und Schüler für den „Kulturkampf“ innerhalb ihrer Jugendbewegung „neuen Typs“ zu gewinnen.2
Daher gilt es, die Jugend durch die Thematisierung des Fremden vor derartiger Indoktrinierung zu schützen, zumal die Begegnung andersartiger Kulturen sowohl zum gegenwärtigen als auch zum zukünftigen Alltag gehört. Gegenwartsbedeutung findet die Beschäftigung mit Seidenhaar im Abbau von Vorurteilen der nach Identität suchenden Schülerinnen. Die relativ leichte Identifikation der 12/13 jährigen Siebtklässlerinnen mit den in etwa gleichaltrigen, ebenso pubertierenden Figuren kann die am eigenen multikulturellen Schulhof unabdingbare Toleranz fördern. Dieser Lebensweltbezug und die Kürze des Romans von lediglich 137 Seiten können in Verbindung mit der Zukunftsbedeutung der Thematik motivierend auf die Schülerinnen wirken. Da die Schülerinnen in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft leben und sie aktiv mitgestalten sollen, sind dem Bewusstsein über die eigene Identität und der Toleranz gegenüber Fremdartigem eine große Bedeutung zuzuschreiben.
Gemäß dem Lehrplan für die 7. Klasse lernen die Schülerinnen an Hand der Lektüre Seidenhaar Jugendliteratur aus einem andersartigen Kulturkreis kennen und setzen sich dabei mit Fragen eigener und fremder Identität auseinander. Gleichzeitig beschäftigt sich die Klasse mit dem Thema Frau, da weibliche Hauptfiguren und ihre Lebenswelt im Mittelpunkt des Romans stehen. Des Weiteren lernen die Schülerinnen das Werk einer zeitgenössischen Autorin kennen, wodurch ihre Leseerfahrung, verbunden mit der Entnahme und Verarbeitung von Informationen über eine andere Kultur, erweitert wird. Es bietet sich an, diese Kenntnisse fächerübergreifend mit den Fächern Religion und Ethik zu erarbeiten oder zu vertiefen, da die Behandlung des Islams ohnehin von deren Lehrplänen für diese Jahrgangsstufe vorgesehen ist.

4.2. Lernziele

Auf Grund mangelnder Integration bleiben Migranten in Deutschland gerne unter sich, so dass sie sich wiederum als Gruppe selbst ausgrenzen. So mancher will daher gar nichts mit den abfällig als „Ausländerpack“ bezeichneten Migranten zu tun haben, obwohl er selbst keine kennt. Zur Beseitigung dieser gegenseitigen Unwissenheit der Gruppierungen übereinander will unser Unterrichtsentwurf mit folgenden Grobzielen beitragen: In kognitiver Hinsicht sollen Sachinformationen über die fremde Kultur des Islams vermittelt werden. Im emotionalen und sozialen Bereich3 sollen durch die intensive Auseinandersetzung mit den Figuren in Aygen-Sibel Çeliks Roman Seidenhaar Empathiefähigkeit und Selbstreflexion geschult werden. Insgesamt sollen Vorurteile ab- und Toleranz aufgebaut sowie gruppendynamische Prozesse gefördert werden.
Die für Gruppendynamik notwendige soziale Kompetenz soll durch Kommunikation der Schülerinnen untereinander, sowohl verbal als auch in schriftlicher Form, erfolgen. Zur Steigerung der Kommunikationsfähigkeit soll die Klasse die Figuren arbeitsteilig und teamorientiert charakterisieren und präsentieren. Dabei soll durch aktives Zuhören den anderen Respekt vor deren Arbeit gezeigt werden, aber auch durch logisches Argumentieren die eigene Meinung vertreten werden.
Auf diese Weise können die Schülerinnen im Hinblick auf die affektiv-emotionalen Lernziele die Wirkung ihrer Meinungsäußerung auf andere und auf sich selbst erfahren. Die eigene Meinung soll themenadäquat eingebracht werden und auf die Äußerungen von Mitschülerinnen soll Bezug genommen werden. Hier sollen die Schülerinnen zeigen, dass sie die Regeln der Kommunikation beherrschen, nicht zuletzt auch im Ausreden-Lassen der Sprechenden. Das Erkennen und Nutzen der Macht der Sprache soll die Gefühle der Selbstwirksamkeit sowie der Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit erfahrbar machen. Die so in ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit gestärkten Schülerinnen werden die Anwendung von Gewalt in Auseinandersetzungen verachten. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit soll ferner durch die besondere Aufmerksamkeit der Lehrkraft gegenüber den Äußerungen der Schülerinnen gefördert werden, während diese von ihren Leseerfahrungen berichten. Damit möglichst jede Schülerin gespannt auf das Buch Seidenhaar ist und es neugierig und aufmerksam liest, soll die Klasse die Informationen über den Islam mit allen Sinnen — Hören, Sehen, Fühlen — aufnehmen. Eine musikalische Kostprobe der islamischen Kultur soll angeboten und Bilder dazu gezeigt werden, damit sich die Schülerinnen in diese für sie fremde Welt leichter hineinversetzen können. Beim Lesen des Jugendromans sollen sie sich in die Figuren einfühlen, wodurch ihre Empathiefähigkeit gefördert wird. Eine intensive Analyse der Charaktere soll sie zu einem Perspektivwechsel führen, um eine Änderung ihrer Einstellungen zu ermöglichen: Das Dilemma, in dem junge muslimische Frauen stecken können, und die eigenen Vorurteile gegen sie sollen erkannt werden und durch eine neue Meinung ersetzt werden. Verdeutlichen soll dies das Abschlussbild, bestehend aus Präsentationskärtchen mit den anfänglichen Voreingenommenheiten und der tatsächlichen Realität, wie sie die Figurencharakteristiken ergeben haben. Dadurch dürfte es bei den Schülerinnen zu einem Aha-Effekt kommen, der sie Toleranz gegenüber Menschen anderer Kulturen und Religionen erlernen lässt. Die Befassung mit fremden Einstellungen wird die Schülerinnen zur Selbstreflexion, insbesondere zur Schärfung ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung führen. Letztendlich soll dies der Identitätsfindung dienen und zugleich ihre Toleranz im Sinne von Akzeptanz und Respekt vor Andersartigen oder Andersdenkenden erhöhen.
Auf kognitiver Ebene soll die Auseinandersetzung mit dem Roman Seidenhaar die Schülerinnen zu tiefgründigem Denken in Zusammenhängen herausfordern und ihre Kritik- und Urteilsfähigkeit verbessern. Dazu müssen sie die Figuren durch das Anwenden charakterisierender Adjektive und Adverbien sowie komplexerer Adverbiale beschreiben und ihrer Figur den jeweiligen biografischen und soziokulturellen Hintergrund zuordnen. Überdies sollen sie die Einstellungen der jeweiligen Figur zum Islam und zum Kopftuch herausstellen und in Bezug zueinander setzen. Dabei müssen sie ihr Wissen über die islamische Kultur anwenden, das sie mit Hilfe der Sachinformationen der Lehrkraft und des Glossars am Ende des Buches erworben haben. Durch diese Analyse und Synthese können die Schülerinnen nicht nur Text- und Literaturverständnis erwerben und ausbauen, sondern auch die Technik des Arbeitens mit einem Text durch Textbelege üben. Ebenso sollen sie die Methode des Brainstormings kennen lernen. Beide Arbeitstechniken zielen darauf ab, dass sich die Schülerinnen längere Zeit auf eine Sache konzentrieren können. Dies ist auch notwendig, wenn sie ihre Meinung zu den thematischen Aspekten sprachlich richtig formulieren wollen. Somit wird ihre Sprachkompetenz erweitert, insbesondere, wenn trotz Einhaltung der Kommunikationsregeln Konflikte in Form von Meinungsverschiedenheiten auftreten. Gerade in Situationen, in denen die Schülerinnen ihre Meinung verbalisieren sollen, ist auch die im psychomotorischen Bereich angesiedelte Fähigkeit des flüssigen Sprechens ohne motorische Störungen, wie Stottern oder Zittern wichtig. Sie sollen daher den sprachlich flüssigen, gestisch und mimisch ausdrucksstarken Ergebnisvortrag oder das Referieren der Informationen über Werk und Autorin vor der Klasse üben. Umgekehrt sollen sie genauso ihre Gedanken rasch in Worte fassen und aufschreiben können. Dies sollte in ansprechender Form erfolgen, so dass, abgesehen von der Lesbarkeit, eine Ordnung und Struktur erkennbar ist.
Demzufolge sollen sich die Schülerinnen in jeder Hinsicht aktiv am Unterricht beteiligen, sei es durch die mündliche oder schriftliche Meinungsäußerung, die persönliche und gruppendynamische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen und dann mit den literarischen Figuren sowie deren Problemen, Haltungen und Vorurteilen, die Präsentation der Ergebnisse im Plenum, die Korrektur bzw. Ergänzung der Beiträge anderer sowie das persönliche und gemeinschaftliche Erarbeiten von konkreten Schlussfolgerungen aus dem Abschlussbild. So wird eine Selbsttätigkeit erreicht, deren Ziele die positive Änderung der eigenen inneren Einstellungen und die Orientierung an den Werten einer toleranten und harmonischen multikulturellen Gesellschaft sind. Damit kann hoffentlich ein Mitschwimmen im Mainstream und das Festhalten an unbedachten Vorurteilen verhindert werden.


1 Anm.: So beurteilte Bundespräsident Horst Köhler die Integration von Migranten in Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern bei „Sabine Christiansen“ am 24. Juni 2007.
2 Anm.: siehe Artikel „Jetzt kommen die guten Nazis“ in: Die Zeit, Jg. 62, Nr. 26, 21. Juni 2007, S. 43.
3 Anm.: Bisher werden emotionale und soziale Lernziele in der Fachwissenschaft meist getrennt, obwohl sie sehr eng in Bezug zueinander stehen. Wir sind allerdings der Ansicht, dass emotionale Lernziele in der Regel zugleich auch eine soziale Dimension besitzen.

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